Kreative Interviewfragen: So lernen Sie Ihre Bewerber wirklich kennen!
Frage 2: Man hat ja immer Kollegen, die man mag, und solche, die man weniger mag. Wie ist das bei Ihnen? – Beschreiben Sie uns einen Kollegen, auf den Sie gut verzichten könnten.
Hier steht der Kandidat vor einem Dilemma. Einerseits wird eine ehrliche, plausible Antwort von ihm erwartet. Denn die meisten Berufstätigen haben wohl den ein oder anderen Kollegen, mit dem sie nicht so gut klarkommen. Wählt er den einfachen Weg („Ich komme mit allen prima klar.“), wirkt das tendenziell unglaubwürdig und veranlasst den Recruiter zum Nachhaken. Andererseits sollte der Bewerber natürlich keine schmutzige Wäsche waschen oder über Kollegen herziehen.
Erwartungshorizont
Diese Frage wirkt auf drei Ebenen. Nennt der Kandidat konkrete Kritikpunkte oder Defizite, können Sie daraus entsprechende Rückschlüsse auf seine Ansprüche und Werte ziehen: Worauf kommt es ihm bei der Zusammenarbeit mit anderen an? Welche Eigenschaften sind ihm wichtig, was stört ihn? Woran macht er seine Werte in der Praxis fest?
Darüber hinaus hilft Ihnen die Frage, das politische Geschick des Bewerbers auszuloten: Wie diskret ist er? Wie diplomatisch fällt seine Antwort aus? Gelingt es ihm, Kritik an anderen mit Wertschätzung zu verbinden?
Zudem kann Ihnen die Antwort des Kandidaten Aufschluss über seine Sozialkompetenz geben: Sieht er ein gewisses Maß an Eigenverschulden am getrübten Verhältnis zum Kollegen? Was hat er bereits unternommen, um die Zusammenarbeit zu verbessern?
Praxistipp
Es lohnt sich, in Auswahlgesprächen von bewährten, aber angestaubten Routinen abzuweichen und individuelle Akzente zu setzen. Das funktioniert besonders gut mithilfe kreativer Fragen abseits des üblichen Weges (im Englischen auch „Offbeat Questions“ genannt), auf die sich die Kandidaten nicht oder nur eingeschränkt vorbereiten können.
Setzen Sie kreative Fragen im Auswahlgespräch gezielt ein: zum Beispiel, um die Eröffnungsroutine aufzulockern, wenn Sie nicht an den Kandidaten herankommen. Oder um neue Fahrt aufzunehmen, wenn der Dialog ins Stocken gerät. Oder um Themen anzusteuern, die der Bewerber von sich aus nicht anspricht.
Stellen Sie unkonventionelle Fragen auf keinen Fall, um Bewerber unter Druck zu setzen. Das wäre völlig kontraproduktiv. Allerdings dürfen sie durchaus mal knifflig oder provokant ausfallen. Deshalb ist es bei dieser Fragetechnik besonders wichtig, den Bewerbern fair und auf Augenhöhe zu begegnen. Empfehlenswert ist hier eine kurze Anmoderation – etwa mit folgendem Tenor: „Die nächste Frage klingt vielleicht etwas ungewöhnlich, aber ich würde gerne von Ihnen wissen ...“
Beitrag von: Jochen Gabrisch, Autor der Fachbücher "Die Besten entdecken" und "Die Besten im Gespräch"/Bild: ©Alexander Pokusay-Fotolia.com