Auf den ersten Blick scheint es eine gute Nachricht für den Arbeitsmarkt zu sein: Ein Drittel der Beschäftigten wäre bereit, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten. Das geht aus einer aktuellen Erhebung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hervor. In der aktuellen Situation des Arbeitskräftemangels hilft dies allerdings wenig, denn diese Personen – befragt wurden Menschen zwischen 18 und 67 Jahren – sind größtenteils derzeit arbeitstätig. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten führt dies aber vielleicht schon zu einem höheren Anteil an berufstätigen Rentnern und Rentnerinnen.
Momentan sind 13 Prozent der Menschen im Alter von 65 und 74 Jahren in Deutschland erwerbstätig (16 Prozent bei den Männern und 11 Prozent bei den Frauen). Viele tun dies nicht, weil sie es wollen, sondern aus finanziellen Gründen. Wie die jüngste Auswertung des Statistischen Bundesamts (Destatis) zeigt, arbeiten 33 Prozent der erwerbstätigen Rentnerinnen und Rentner, weil es für sie finanziell nötig ist. 29 Prozent tun dies aus Freude, 11 Prozent, weil die Beschäftigung für sie finanziell attraktiv ist und 9 Prozent aufgrund der sozialen Integration, welche die Arbeit ihnen bietet. Es gibt aber auch zahlreiche Menschen, die nicht länger als das Renteneintrittsalter arbeiten möchten. Wenn möglich, möchten sie sogar schon früher aus dem Arbeitsmarkt austreten. Laut einer Befragung unter 1.000 Erwerbstätigen der Techniker Krankenkasse plant fast ein Drittel der Erwerbstätigen ab 50 Jahren vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter aus dem Job auszuscheiden.
Was sich Menschen über 55 Jahren wünschen
Was kann HR tun, um aus einem „Ich kann mir vorstellen, übers Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten“ ein „Ich will und werde über das Renteneintrittsalter hinaus tätig sein“ zu machen? Eine aktuelle Studie von Stepstone zeigt, was sich Menschen ab 55 Jahren von ihrem Arbeitgeber wünschen. Die meisten von ihnen möchten etwa 24 Stunden pro Woche tätig sein und sich ihre Arbeitszeit flexibel gestalten können. Ihnen ist eine gute Work-Life-Balance wichtig und sie sehen zusätzliche Weiterbildungsangebote, die es ihnen ermöglichen, weiterhin attraktiv auf dem Arbeitsmarkt zu sein, als relevanten Benefit an. Mehr als zwei Drittel von ihnen sind auch bereit, sich kontinuierlich fortzubilden, um mit ihren jüngeren Kolleginnen und Kollegen Schritt halten zu können.
Tarek El-Dabbadgh, CHRO der Infoniqa Group, hat in seiner „HR-Werkstatt“ für die Personalwirtschaft weitere Tipps geteilt, um ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das für ältere Mitarbeitende ansprechend ist. Eine ergonomische Arbeitsumgebung sowie zielgruppenspezifische Ernährungs-, Sport- und Entspannungsangebote könnten das Arbeitsambiente für Seniorinnen und Senioren verbessern. Er rät zudem, sie in altersdiversen Teams unterzubringen, Netzwerke für sie zu schaffen, ihnen zusätzliche Urlaubstage zu geben und Pflegezeitangebote zu schaffen.
Doch das bringt alles nur bedingt etwas, wenn Arbeitgeber ältere Mitarbeitende nicht als Potenzialträgerinnen und -träger sehen, ihnen Weiterentwicklungschancen und Anstellungen geben, welche ihren Stärken gerecht werden. Stärken, die Oliver Hohmann, Managing Director von Deltacon Executive Research, im Detail folgendermaßen beschreibt: Sie verfügen über einen großen Erfahrungsschatz und brauchen vergleichsweise wenig Anlaufzeit, um Situationen schnell einzuschätzen und unter Kontrolle zu bringen. „Diese Stärken können sie besonders im Krisenmanagement und kritischen Transformationsprozessen einbringen. Ihre lang antrainierten Soft Skills können sie über interne Mentoring- und Ausbildungsprogramme weitergeben.“ Um diese Stärken entfalten zu können, bräuchten die Seniorinnen und Senioren laut Hohmann vom Arbeitgeber vor allem Wertschätzung und Freiräume.
Welche Rollen spielt Altersdiskriminierung?
Doch dieses Potenzial sehen einige Arbeitgeber aktuell nicht. Wie aus der Stepstone-Studie hervorgeht, schätzt mehr als die Hälfte der 700 befragten Personalverantwortlichen Kandidatinnen und Kandidaten über 50 Jahre als zu alt für bestimmte Positionen ein. Das merken auch Bewerbende. Ein Viertel von den befragten Bewerbenden über 50 Jahre gaben an, schon einmal explizit wegen des Alters von einem Arbeitgeber abgelehnt worden zu sein. Dies deutet auf Altersdiskriminierung hin, muss es aber nicht in allen Fällen sein. Enzo Weber, Arbeitsmarktfachmann und Forschungsbereichsleiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sagte gegenüber der F.A.Z.: Dass Unternehmen älteren Talente absagen, könnte auch daran liegen, dass sie nicht mehr die für manche Jobs nötige physische Leistungsfähigkeit haben oder Gehaltsvorstellungen haben, die Unternehmen so nicht bezahlen können oder wollen. Auch gebe es in manchen Berufen eine gesetzliche Altersgrenze – etwa bei der Polizei.
Handelt es sich um Altersdiskriminierung, muss HR dem entgegenwirken, da es sich hier um einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) handelt. Dass sie Menschen, welche eine Offenheit für ein Arbeiten über das Renteneintrittsalter mitbringen, zum tatsächlich längeren Arbeiten motivieren sollten, ergibt sich aus keinem Gesetz, wohl aber ein Stück weit aus dem Fachkräftemangel.
Laut Schätzungen von Stepstone könnten dem deutschen Arbeitsmarkt jährlich etwa 570.000 Menschen erhalten bleiben, wenn ein Teil der Arbeitnehmenden, die bis 2035 das Pensionsalter erreicht haben, weiterarbeitet. Dies würde dem Staat zusätzliche Wirtschaftsleistungen von bis zu 28 Milliarden Euro bescheren und den Unternehmen Arbeitskräfte erhalten.
Quelle: Personalwirtschaft.de