Die positive Nachricht zuerst: Immer mehr Abiturientinnen und Abiturienten beginnen in Deutschland eine Ausbildung. Waren es 2011 noch 35 Prozent, sind es 2021 gut 47 Prozent an Menschen mit Abitur gewesen, die eine Berufsausbildung starteten. „Von einer mangelnden Attraktivität der Berufsausbildung für Abiturientinnen und Abiturienten kann keine Rede sein“, sagt Dieter Dohmen. Für die Bertelsmann Stiftung hat das von ihm geleitete Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) eine Studie durchgeführt, die das Ausbildungssystem in Deutschland und den dortigen Bewerbermangel untersucht. Das Kernergebnis: Die Ausbildung ist für viele Jugendliche attraktiv, doch gerade niedriger Qualifizierte schaffen den Sprung in das Ausbildungsverhältnis nicht.
Mehr junge Menschen machen gar nichts beruflich
Und jetzt zur negativen Nachricht: Während der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten steigt, der sich für eine Ausbildung entscheidet, sinkt die Quote bei jenen, die mit einem Hauptschulabschluss die Schule beenden. Lag die Quote hier im Jahr 2012 sogar bei 109 Prozent, begannen also mehr Hauptschulabsolventen auch aus vorherigen Jahren eine Ausbildung, als die Schulen verließen, lag der Anteil 2020 nur noch bei rund 84 Prozent.
Die Summe aus den gleichen die Abiturientinnen und Abiturienten als neue Azubis nicht aus. Insgesamt werden derzeit weniger Ausbildungsverträge unterzeichnet als vor einigen Jahren. Wurden 2007 etwa 844.000 Verträge abgeschlossen, waren es 2021 nur noch 706.000. Das kann nicht komplett auf den Fachkräftemangel zurückgeführt werden. Denn gleichzeitig steigt die Zahl der sogenannten Neets (Not in Employment, Education or Training). 2021 befanden sich rund 630.000 Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren weder in einer Ausbildung noch waren sie an einer Schule angemeldet oder gingen einer Arbeit nach. Die höheren Zahlen könnten auch coronabedingt gestiegen sein.
Studienautor Dohmen betont aufgrund der Entwicklung, wie wichtig es ist, alle Menschen, die das möchten, in das Ausbildungssystem zu integrieren. „Viel zu viele Jugendliche gehen auf dem Ausbildungsmarkt leer aus oder fallen ganz aus dem System. Wir müssen die Integrationsfähigkeit des Ausbildungssystems wieder deutlich erhöhen“, sagt der Experte. Derzeit würden viele Arbeitgeber an Qualifikationsanforderungen festhalten, die die Jugendlichen auch – aber nicht nur – aufgrund von fehlender Praktika und Orientierungsmöglichkeiten durch die Corona-Pandemie nicht erfüllen können.
Betreiben Arbeitgeber eine Bestenauslese?
Das sieht auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) so. „Es passt einfach nicht zusammen, wenn die Arbeitgeber einerseits über fehlende Bewerber klagen, auf der anderen Seite aber vielfach eben eine Bestenauslese betreiben“, sagt die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack der Nachrichtenagentur dpa. In den Neets liege ein großes Potenzial für mehr Ausbildung und damit zur Linderung des Fachkräftemangels. Dieses Potenzial brach liegen zu lassen, „können wir uns als Gesellschaft nicht leisten“, sagte sie.
Hinzu kommt laut Sebastian Groesch, Senior Experts Recruiting Solutions bei Raven51, die (moralische) Pflicht der Arbeitgeber, einen Bildungsbeitrag zu leisten und sich an der Ausbildung derzeit niedrig qualifizierter Menschen zu beteiligen. Auf Linkedin schreibt er: „Unser Bildungssystem zeigt immer größere Lücken, die dann dazu führen, dass es Lücken gibt in den notwendigen Fähigkeiten. Das nimmt die Unternehmen aber nicht aus der Pflicht, ihren Bildungsbeitrag zu leisten. Es wird doch immer lebenslanges Lernen propagiert.“
Um die Neets in die Arbeitswelt zu integrieren, könnte auch eine Ausbildungsgarantie helfen. Sie wird derzeit in der Politik angestrebt. Demnach soll künftig jeder und jede die Möglichkeit bekommen, einen Abschluss zu machen, um nicht – wie bisher oftmals geschehen – in Übergangsangeboten stecken zu bleiben. Wer keinen Ausbildungsplatz bei einem Unternehmen erhält, soll den Abschluss an einer Berufsschule oder in einem Ausbildungszentrum machen können. FiBS-Experten und -Expertinnen befürworten den Plan.
Quelle: Personalwirtschaft.de