Der Krankenstand in Deutschland steigt, weshalb Allianz-Chef Bäte und einige Wirtschaftsexperten die Wiedereinführung des Karenztags vorschlagen. Fehlgeleitete Debatte oder Lösung?

Allianz-Chef Oliver Bäte hat vorgeschlagen, den so genannten Karenztag wieder einzuführen. Damit würden Arbeitnehmende am ersten Krankheitstag keinen Lohn bezahlt bekommen, sondern erst ab dem zweiten.

Sein Gedanke dahinter: Der Krankenstand in Deutschland habe in den vergangenen Jahren immer wieder einen Höchstwert erreicht. Arbeitnehmende in der Bundesrepublik seien im Schnitt 20 Tage jährlich krank. Das sei im europäischen Vergleich außerordentlich hoch, was impliziere, dass viele Menschen in Deutschland blaumachen würden, während sie Gelder vom Arbeitgeber und Staat einsacken, so Bätes Argumentation.

Das wiederum führe zu einem Kostenproblem. Zuvor hatte sich unter anderem auch die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer für einen Karenztag ausgesprochen. Auch Nicolas Ziebarth vom Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) brachte entsprechende Gedanken in die Diskussion

So blicken HR-Experten auf den Vorschlag 

Bätes Vorschlag löste eine hitzige Debatte aus – auch in der HR-Szene. „Wenn wir darüber sprechen, dass sich Menschen vermehrt krankmelden, sollten wir nicht an den Symptomen herumdoktern, sondern uns die Ursachen anschauen“, schreibt Magdalena Rogl, Diversity & Inclusion Lead bei Microsoft Deutschland auf Linkedin. Arbeitgeber und der Staat sollten sich ihrer Ansicht nach vielmehr fragen: Warum macht viele Menschen ihre Arbeit krank? Warum fühlen sich viele von der Arbeit überfordert? Warum fehlt es einigen an Motivation für ihren Job?

Rogl betont zudem, dass Zweifel und Bestrafung keine geeigneten Mittel seien, um den Krankenstand zukünftig zu verringern. Wir brauchen nicht „Misstrauen, sondern psychologische Sicherheit, nicht Druck, sondern Motivation, nicht Human Resources, sondern Human Relations“. Die DEI-Expertin sieht hierbei vor allem Führungskräfte in der Verantwortung, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, dass motiviert und durch Vertrauen geprägt ist: „Wenn wir unseren Mitarbeitenden nicht vertrauen können, dann haben wir als Führungskräfte schon einen Fehler bei der Einstellung gemacht.“

Aniela Liepold, Personalleitung des Fahrzeugzubehörhändlers ALUCA, sieht das anders. Sie berichtet auf Linkedin, dass der Personalbereich seit langem mit dem Thema Arbeitsunfähigkeit zu kämpfen hat. So gebe es regelmäßig „Wunderheilungen“ bei Mitarbeitenden nach sechs Wochen – die Zeit, in der Mitarbeitende trotz Abwesenheit aufgrund von Krankheit noch ihren vollen Lohn gezahlt bekommen. Danach würden sich einige der besagten Personen nach zwei bis vier Wochen ausgeübter Tätigkeit wieder für sechs Wochen krankschreiben lassen.

Liepold sieht im Karenztag allerdings nicht die Lösung für dieses Problem und schlägt stattdessen vor: „Uns würden Ärzte und Ärztinnen helfen, denen die Auswirkung von Krankschreibungen auf die deutsche Wirtschaft bewusst sind und diese entsprechend einsetzen, Rechtsprechungen, die den Arbeitgeber unterstützen und Kontrollinstrumente zu den Themen Anrechenbarkeit und Überprüfung von Krankheiten.“

Kostensparen und dafür die Unternehmenskultur verschlechtern?

Bastian Schmidtbleicher-Lück, Geschäftsführer des BGM-Anbieters Moove, fasst die Vor- und Nachteile eines Karenztages zusammen. Neben der Kosteneinsparung, die sich durch einen Karenztag ergebe, wäre die Regelung ein „Signal für Eigenverantwortung“. „Ein unvergüteter erster Krankheitstag setzt einen Anreiz, sich bei leichten Beschwerden gut zu überlegen, ob ein Arbeitstag wirklich unmöglich ist“, schreibt er auf Linkedin. „Manche Befürworter vergleichen das mit einer Selbstbeteiligung in Versicherungsfragen, was das individuelle Verantwortungsbewusstsein stärken soll.“

Gegen den Karenztag spreche laut Schmidtbleicher-Lück hingegen, dass er einen Präsentismus fördere und die betroffene Person etwa Kolleginnen und Kollegen anstecken und sich selbst vom schnellen Gesundwerden abhalten könnte, womit längere Krankheitszeiten folgen könnten.

Die Einführung eines Karenztages könne zudem zu einer Misstrauenskultur, einem Motivationsverlust sowie einer rückläufigen Identifikation mit dem Arbeitgeber führen – und das wiederum könnte die Folgen des Fachkräftemangels noch einmal verschärfen. Sein Résumé: „Statt finanzieller Sanktionen sind Maßnahmen der gesunden Arbeit durch eine vertrauensbasierte Führung deutlich zielführender.“

Ist der Krankenstand wirklich gestiegen?

Viele Diskussionen, doch sind sie womöglich nur Teil einer fehgeleiteten Debatte? Der Vorschlag zu Karenztagen basiert auf der Annahme, dass der Krankenstand in Deutschland in den vergangenen Jahren wirklich unverhältnismäßig gestiegen ist und deutlich höher liegt als im EU-Ausland. Beides ist laut unterschiedlichen Expertinnen und Experten allerdings nicht unbedingt der Fall.

So sind die Zahlen beim Krankenstand  in den vergangenen Jahren zwar vielerorts tatsächlich gestiegen. Doch das lässt sich zu einem beträchtlichen Teil zum einen durch Corona und seine Ausläufer und zum anderen durch die Einführung der elektrischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) erklären.

„Es handelt sich hierbei zum großen Teil um einen statistischen Effekt“, hat jüngst Christopher Prinz, Arbeitsmarktexperte bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erklärt. Bis 2021 mussten Versicherte Krankmeldungen selbst an die Krankenkassen schicken, was sie oft nicht getan hätten. Seit Januar 2022 erfolgt diese Übermittlung elektronisch und direkt durch Arztpraxen und Krankenkassen, die Erhebung sei deshalb lückenloser und es werden mehr Krankheitsfälle gezählt.

Prinz widerlegt auch mit OECD-Zahlen, dass der Krankenstand in Deutschland deutlich über dem im europäischen Ausland liege. In Frankreich sei er höher gewesen, in Belgien und Schweden auf einem ähnlichen Niveau wie in der Bundesrepublik. Das spricht nicht wirklich für einen Nutzen des Karenztages. In Frankreich gibt es drei Karenztage und krankgeschriebene Menschen erhalten danach 50 Prozent ihres Gehalts. In Schweden gibt es ebenfalls einen Karenztag und das Gehalt wird zu 80 Prozent ausgezahlt.

Gibt es womöglich schon eine Alternativlösung?

Auch aus juristischer Perspektive ist die Einführung eines Karenztages nicht unbedingt nötig. Die aktuelle Rechtslage gebe Arbeitgebern auch jetzt schon Möglichkeiten, um Mitarbeitenden im Krankheitsfall weniger Lohn zu zahlen. Und zwar durch eine Kürzung des übergesetzlichen Urlaubs gegen den ersten Krankheitstag.

Auf Linkedin schreibt Kilian Friemel, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei Taylor Wessing Germany: „Man vereinbart zum Beispiel zusätzlich zum gesetzlichen Urlaubsanspruch von 20 Tagen weiter 12 Tage übergesetzlichen/vertraglichen Urlaub. Insgesamt wären das dann 32 Tage Urlaub im Jahr. Gleichzeitig wird vereinbart, dass bis zu beispielsweise 7 Urlaubstage pro Jahr als „Karenztag“ für den jeweils ersten Arbeitsunfähigkeitstag gekürzt werden.“

Eine Möglichkeit, die allerdings risikobehaftet ist. Anton Barrein, Rechtsanwalt bei activelaw Offenhausen.Wolter PartmbB, weist darauf hin, dass „eine Kürzung von Sondervergütungen nur in geringen Grenzen möglich ist, die hier eventuell überschritten sind“.

Barrein verweist auf ein Urteil des Landesgerichts Rheinland-Pfalz (LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 1.3.2012 – 11 Sa 647/11): „Nach § 4a EFZG [Anm. d. Red.: Entgeltfortzahlungsgesetz] ist eine Vereinbarung über die Kürzung von Leistungen, die der Arbeitgeber zusätzlich zum laufenden Arbeitsentgelt erbringt – Sondervergütung – auch für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit zulässig.

Die Kürzung darf allerdings für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit ein Viertel des Arbeitsentgelts, das im Jahresdurchschnitt auf einen Arbeitstag entfällt, nicht überschreiten.“ Barreins Schlussfolgerung: „Die zugrunde liegende Rechtsfrage ist also überaus komplex. Und eine Frage ist natürlich auch, inwieweit Arbeitnehmer derartige Regelungen akzeptieren werden oder diesen mit Skepsis begegnen.“

Seit 1970 gibt es keinen Karenztag mehr in Deutschland 

Ob der Gesetzgeber dieses Risiko minimiert und einen Karenztag einführt, scheint aktuell unwahrscheinlich. Zwar hat es bis 1970 in Deutschland keine Lohnfortzahlung für Arbeiter und Arbeiterinnen am ersten Krankheitstag gegeben und zwischen 1996 und 1998 wurde nur 80 statt 100 Prozent des Lohns während der Krankschreibung ausgezahlt, doch etwaige Versuche, den Karenztag wieder einzuführen, scheiterten immer wieder.

Einen solchen Vorschlag hatte es beispielsweise auch 1993 von der CDU/CSU-Fraktion gegeben. „Vorgesehen war in § 3 des Entwurfes, dass ein – beziehungsweise bei mehrtägiger Erkrankung auch zwei – Arbeitstage von der Entgeltfortzahlung verpflichtet ausgenommen werden. Sollte der Arbeitnehmer häufiger krank sein, so sollte diese Ausnahme aber für maximal sechs Arbeitstage im Jahr gelten“, sagt Rechtsanwalt Barrein. Eine Mehrheit im Parlament fand diese Idee jedoch nicht.

Quelle: Personalwirtschaft.de

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